Prototyping verringert Risiken und ermöglicht den optimalen Projektablauf

Prototypen sind ein optimales Werkzeug, um eine Idee oder ein Konzept mit echten Benutzern zu validieren und sie helfen User Experience-Experten früh falsche Annahmen zu erkennen und viel fehlgeleitete zeitliche und finanzielle Ressourcen zu vermeiden.

Autor Adrian Hausamman
Datum 02.12.2019
Lesezeit 12 Minuten

Stellen Sie sich vor, dass Sie ein Startup mit Fokus «Produktivitätssteigerung in einem Mehrpersonenhaushalt» starten. Sie haben DIE brandheisse Vision im Kopf – ein Mehrpersonenhaushalt soll sich mit einer App auf ganz einfache Art und Weise organisieren, Aufgaben verwalten, kommunizieren und sogar Einkäufe vereinfachen können. Sie wissen auch bereits, wie die App heissen soll – LuckyHome. Los geht es mit der Umsetzung, das wird bestimmt ein Erfolg.

Aber Achtung, unsere Erfahrung zeigt, dass am Anfang von jedem Projekt zwar immer eine spannende Vision steht, aber oftmals auch ein grosser Berg von komplexen Anforderungen und Unklarheiten. Man will lossprinten und die Ideen umsetzen, aber vielleicht bleibt dennoch ein laues Gefühl in der Magengegend. Wird das wirklich was? Wird die Idee von den Benutzern akzeptiert? Was muss wie und zu welchem Zeitpunkt umgesetzt werden? Hat das Team die Idee wirklich richtig verstanden? Welches Feature wird der Renner und welches nicht?

Hand aufs Herz, Softwareprojekte sind leider bekannt dafür, dass oftmals viel Zeit für Features vergeudet wird, welche der Benutzer als schwierig zu bedienen erachtet oder schlichtweg nicht benutzen möchte. Ist ein Feature einmal implementiert, ist es oft zu spät – Geld und vor allem wertvolle Zeit von Mitarbeitenden wurde vergeudet. Aber wie soll man im Voraus wissen, was der Benutzer braucht und was nicht? Und vor allem wie soll man herausfinden, ob der Benutzer das Feature auch bedienen kann?

Merke:

Der tatsächliche Benutzer soll immer im Fokus stehen. Denn eine Software wird für den Benutzer erstellt, nicht für den Auftraggeber, nicht für die Person mit der grossen Vision und schon gar nicht für die Designagentur.

Wir empfehlen, wenn immer möglich, das Vorgehen nach HCD (Human centered design oder menschenzentriertes Design) anzuwenden. Es basiert auf einem iterativen Prozess nach dem Standard ISO 9241-210. Jede Iteration enthält dabei eine Überprüfung mit dem tatsächlichen Benutzer (im Beitrag von Thomas Messner erfahren Sie mehr Details zum Thema HCD).

 

Wie hilft Ihnen Prototyping in Ihrem tatsächlichen Projektvorhaben?

Eigentlich ganz einfach – mit Prototyping können Sie Risiken in Projekten frühzeitig erkennen und das Projekt zum sicheren Erfolg führen. Sie können schnell Ideen überprüfen, ohne viel Zeit und Geld zu investieren. Ein sehr bekanntes Beispiel für den Einsatz von Prototypen ist die Automobilindustrie. Gestartet wird mit Prototypen, welche dazu dienen, die neuen Technologien oder Designelemente zu testen. Das Schlimmste wäre ein Auto, welches bereit für den Verkauf ist, aber niemandem gefällt oder sehr anfällig auf Fehlbedienungen ist.

Auch im Human Centered Design Prozess werden Prototypen während jeder Iteration gezielt eingesetzt, um Annahmen, welche zum Benutzerinterface oder zu Konzepten getroffen wurden, mit dem Benutzer überprüfen zu können. Mit Prototypen kann man zu jedem Zeitpunkt im Projekt rasch validieren, ob man auf dem richtigen Weg ist. Die Schwierigkeit liegt allerdings darin, pro Projektphase entscheiden zu können, wie genau ein Prototyp die geplante Funktionalität abbildet und wie man diesen Prototypen mit den Benutzern überprüfen kann.

Definition Prototyp:

«Ein für die jeweiligen Zwecke funktionsfähiges … vereinfachtes Versuchsmodell eines geplanten Produktes. … Mit dem Prototyp wird einerseits die Tauglichkeit, andererseits die Akzeptanz geprüft» (Wikipedia, aufgerufen am 16. September 2019)

Lo-Fidelity, Mid-Fidelity, Hi-Fidelity- Fidelity was?

Unter Lo-Fidelity, Mid-Fidelity oder Hi-Fidelity verstehen wir den Ausprägungstreue eines Prototyps aufgeteilt in sechs Dimensionen. Kurz gesagt, je höher die Fidelity über alle Dimensionen ist, desto eher entspricht der Prototyp dem tatsächlichen Endprodukt.

  • Darstellungstreue: Inwiefern ähnelt der Prototyp visuell dem Endprodukt?
  • Datengehalt: Inwiefern entsprechen die dargestellten Informationen den Informationen im Endprodukt?
  • Funktionsumfang: In welchem Umfang sind vorgesehene Funktionen im Prototyp berücksichtigt?
  • Funktionstiefe: In welchem Detaillierungsgrad sind die einzelnen Funktionen ausgearbeitet?
  • Technische Reife: Inwiefern wird vom Prototyp die tatsächliche technische Integration einer Funktion unterstützt?
  • Interaktivität: Inwiefern ist die Interaktivität mit dem Endprodukt zu vergleichen?
(Richter & Flückiger, Usability und UX kompakt, 2016)

Etwas schwierig zu entscheiden ist, in welchem Detailgrad, auf welcher «Fidelity Stufe», der Prototyp ausgearbeitet werden sollte, damit er für die entsprechende Projektphase und Fragestellung passt. Denn abhängig davon, welche Informationen bei der Evaluation eines Prototyps vom Benutzer gewonnen werden sollen, ist der Fidelity Grad zu bestimmen. Stellen Sie sich daher folgende Fragen:

  • In welcher Phase befindet sich das Projekt? Vision, Konzeption, Umsetzung, soll ein Redesign gemacht werden? Je unreifer eine Idee ist, desto eher setzen Sie Lo-Fidelity Prototypen ein. Auch bei einem Redesign Projekt oder Erweiterungen an einem bestehenden System lohnt es sich am Anfang mit einem schnellen, kostengünstigen Lo-Fidelity Prototypen zu beginnen, um schnell Erkenntnisse zu geplanten Anpassungen zu gewinnen.
  • Soll eine Idee für Budgetbeschaffung aufbereitet werden? Eine visuelle Erscheinung verkauft sich super. Hier lohnt es sich, einen Hi-Fidelity Prototypen zu erstellen, welcher aber nur wenig Interaktivität hat und einen kleinen Funktionsumfang umfasst.
  • Geht es darum das Projektteam zu kalibrieren? Das Projektteam kann bereits mit dem Medium Papier oder am Whiteboard mit verschiedenen einfachen Lo-Fidelity Prototypen kalibriert werden. Während der Diskussion und mit Hilfe des Prototyps können Unklarheiten rasch geklärt werden.
  • Geht es darum, ein neues Designpattern zu überprüfen? Wird ein neuartiges Bedienelement entwickelt, kann explizit nur dieses Feature detailliert als Prototyp ausgearbeitet werden. Für erste Tests mit einem mässig aufwendigen Mid-Fidelity Prototypen, später mit einem interaktiven Hi-Fi Prototypen.

Prototyping ist kein linearer Prozess

Bitte behalten Sie immer im Hinterkopf, dass Prototyping kein linearer Prozess ist und, dass mit fortgeschrittenem Projekt nicht immer automatisch der Fidelity Grad der Prototypen steigt. Schauen wir doch mal, wie das Prototyping das Projekt LuckyHome unterstützen könnte.

Lo-Fidelity Prototyp auf Papier prüft die Vision und das erste Konzept

Tools: Papier, Stift, Schere und Klebstreifen

Es wurden bereits mit potentiellen Benutzern Interviews durchgeführt, um herauszufinden, welche Features ihnen helfen könnten und welche Probleme sie bei der Organisation im Haushalt haben – ein erstes Konzept entsteht auf dem Papier.

Der Entscheid, in dieser Phase ein Papierprototyp einzusetzen, basiert darauf, schnell und kostengünstig das grobe Konzept der App zu überprüfen. Wird das Konzept von den Benutzern nicht verstanden, so lassen sich rasch Änderungen vornehmen und erneut validieren.

Einfacher Mid-Fidelity Prototyp prüft Navigation, Funktionsumfang und Information

Tool: balsamiq.com

Die ersten Tests auf dem Papier mit Benutzern wurden durchgeführt, Erkenntnisse gesammelt und das Konzept konnte erfolgreich bestätigt werden – ein voller Erfolg für LuckyHome. Basierend auf diesen Erkenntnissen kann ein digitales Wireframe als Mid-Fidelity Prototyp entstehen. Der Benutzer soll bei diesem Prototyp bereits interaktiv das zukünftige LuckyHome App erleben können. Der Fokus liegt dabei auf Navigation, Funktionsumfang und Information für den ersten Release. Features aus den folgenden Releases werden nicht ausgearbeitet und visuelles Design mit Farbe ist noch nicht notwendig.

Folgende Fragen sollten beantwortet werden können:

  • Versteht der Benutzer die Navigation?
  • Welche der dargebotenen Funktionen sind für den Benutzer relevant?
  • Findet der Benutzer die notwendigen Informationen, um die Aufgaben zu erledigen?

Immer noch relativ kostengünstig und dennoch schon näher am Endprodukt – mit einem Mid-Fidelity Prototyp kann der Benutzer bereits realistischer interagieren, ohne dass bereits visuell ein Design erstellt werden musste oder sogar technisches Know-How zur Implementierung notwendig war.

Technischer Mid-Fidelity Prototyp prüft Realisierbarkeit einer neuartigen Bedienung

Tools: HTML, JavaScript

Während den ersten Tests wünschten die Benutzer eine effizientere Bedienung der LuckyHome App. Der Benutzer soll durch eine Wischgeste Aufgaben annehmen und ablehnen können. Da es sich um ein neuartiges Designpattern handelt, soll der Prototyp zum einen die Akzeptanz beim Benutzer, aber auch die tatsächliche Machbarkeit der technischen Integration überprüfen. Um dies prüfen zu können, ist ein Mid-Fidelity Prototyp mit technischer Integration das optimale Mittel.

HTML und JavaScript zu implementieren ist zwar aufwendiger, allerdings kann ganz spezifisch für eine Funktion ein Prototyp gebaut werden. Dies zeigt auf, ob die technische Realisierbarkeit möglich ist oder eben nicht. Dadurch, dass die Interaktionsmöglichkeiten im Prototyp dem späteren Produkt ähneln, sind die Rückmeldungen aus den Tests mit den Benutzern sehr wertvoll.

Visueller Hi-Fi Prototyp prüft Farbe und Form

Tool: Sketch, Invisionapp.com

Erkenntnisse aus dem einfachen Mid-Fidelity Prototyp können auf den korrekten Einsatz von  Farbe und Form angewendet werden. Denn Farbe und Form sollen den Benutzer optimal unterstützen. Hierfür wird ein visueller und interaktiver Prototyp erstellt, welcher schon sehr stark dem Endprodukt ähnelt. Aus der Evaluation können detaillierte Informationen zu Inhalt und visueller Erscheinung erhoben werden.

Zurück zum Lo-Fi für neues Navigationskonzept

Tools: Papier, Stift, Schere und Klebstreifen

Auch nach dem Launch der LuckyHome App kann Papier und Stift wieder helfen. Wieder steht eine Idee im Raum, welche ihren Weg in die App finden soll. Schnell und einfach kann die Idee zu Papier gebracht werden, um mit dem Benutzer die bestehende Navigation und das neue Navigationskonzept in einem A/B Testing zu vergleichen.

Unsere Projekterfahrung

Prototypen sind ein optimales Werkzeug, um schnell eine Idee oder ein Konzept mit echten Benutzern zu validieren. Für uns ist es immer wieder interessant zu sehen, dass auch viel Erfahrung im Designprozess niemals ein perfektes Design im ersten Wurf ermöglicht. Die Erkenntnisse aus den Tests sind immer sehr wertvoll, hier trägt der Benutzer massgeblich zum Erfolg eines Projekts bei. Unsere Erfahrung zeigt auf, dass meist ein Suchfeld oben rechts auf der Webseite gesucht wird. Aber nur Tests mit tatsächlichen Benutzern können dies auch bestätigen oder vielleicht auch widerlegen.

Schlussendlich helfen Prototypen uns als User Experience Experten früh falsche Annahmen aufzudecken zu erkennen und unseren Kunden so viel Geld zu sparen.

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Über den Autor

Adrian Hausamman

Bevor Adrian als UX Experte bei soultank AG startete, arbeitete er über 10 Jahre als Softwareentwickler und in anderen Rollen in einer Softwareagentur, welche sich auf Webprojekte für KMUs spezialisiert hat. Die Herausforderung für ihn war es, auch bei kleineren Projekten Platz für die wertvollen Methoden aus User Centered Design zu finden. Adrian setzt sich dafür ein, dass die Ansprüche der Kunden, der Benutzer sowie der Softwareentwickler in richtigem Masse respektiert werden.