Wer hat 2020 noch einen IT-Job? Ein Blick auf die ICT-Berufslandschaft

Vom Fachkräftemangel und 100’000 Quereinsteigern – Fakten und Szenarien. Ein Interview mit Hansjörg Hofpeter, Leiter Höhere Berufsbildung, ICT-Berufsbildung Schweiz.

Autor Oliver Müller
Datum 17.07.2013
Lesezeit 12 Minuten

Vom Fachkräftemangel und 100’000 Quereinsteigern – Fakten und Szenarien. Ein Interview mit Hansjörg Hofpeter, Leiter Höhere Berufsbildung, ICT-Berufsbildung Schweiz.

In der IT-Branche arbeiten in der Schweiz 176’000 Menschen. Von diesen 176’000 Personen bringen 72’000 einen formellen IT-Abschluss mit. Mehr als hunderttausend IT-Fachkräfte haben ihr Handwerk on the Job gelernt. Dieser sehr hohe Anteil an Quereinsteigern ist in erster Linie historisch bedingt, weil eine formale IT-Hochschulausbildung erst seit 1984 und eine IT-Berufslehre erst seit 1994 existiert. In letzter Zeit steigt jedoch der Druck auf die IT-Branche, Kosten einzusparen. Eine Qualifikation mit formellem Abschluss schützt nicht vor Arbeitsausfall durch Restrukturierungsmassnahmen. Er hilft jedoch eventuell bei der Suche nach einer neuen Stelle. Können wir den über 100’000 IT-Experten ohne Qualifizierung zu einem formellen Abschluss verhelfen? Und bringt sie das auf dem Arbeitsmarkt wirklich weiter?

In der Betrachtung des Schweizer IT-Berufsfelds fällt ein zweiter Punkt auf: 42’000 Personen in der Schweiz verfügen über einen IT-Abschluss, arbeiten jedoch nicht mehr im angestammten Bereich. Gleichzeitig ist ein Fachkräftemangel zu verorten, der gemäss einer Studie von ICT-Berufsbildung im Jahr 2020 auf 25’000 unbesetzte Stellen angewachsen ist. Wie können wir dieser Herausforderung begegnen?

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Im Interview mit Hansjörg Hofpeter, Leiter höhere Berufsbildung, ICT-Berufsbildung Schweiz, möchten wir von ihm wissen, was in der Schweiz bezüglich Aus- und Weiterbildung für ICT-Quereinsteiger und gegen den Fachkräftemangel geplant ist.

Digicomp: Herr Hofpeter, wie in der Einleitung beschrieben, sehen Sie sich mit zwei grossen Herausforderungen konfrontiert: Einerseits geht es um die formale Qualifizierung von ICT-Quereinsteigern für eine langfristige Arbeitsmarktintegration derselben, andererseits kämpfen Sie gegen den drohenden Fachkräftemangel. Liessen sich die beiden Probleme nicht elegant verbinden und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen?

Hansjörg Hofpeter: Eine formale Qualifizierung ist immer mit Aufwand verbunden und fordert von den Absolventen wie von den Arbeitgebern zusätzliche Investitionen, nicht nur finanziell, sondern auch zeitlich ist eine Weiterbildung eine Belastung. Der Beschäftigungsgrad ist mit 93% bei den ICT-Beschäftigten extrem hoch. Bei einer Vollbeschäftigung sind zusätzliche Kapazitäten schwierig freizustellen, deshalb ist das Problem nicht ganz so einfach zu lösen. Eigentlich sollte doch gerade die ICT offener sein für Teilzeitmodelle, Standort-ungebundenes Arbeiten etc.

Ist es so, dass IT-Quereinsteiger ohne formalen Abschluss auch nach jahrelanger Erfahrung nicht als ICT-Fachkräfte gelten? Die Frage zielt darauf ab, was unter Fachkräftemangel zu verstehen ist. Was denkt ein Arbeitgeber hierzu? Kennen Sie die Meinungen von HR-Managern zum Expertenstatus von Quereinsteigern? Welche Fähigkeiten muss jemand mitbringen, um 2020 als IT-Fachkraft anerkannt zu werden?

HH: Es ist laut der Studie schon ein formaler Abschluss, der zählt, um als Fachkraft zu gelten. Ich kenne leider die Meinung der HR-Manager zu wenig. Das Problem der erfahrenen Quereinsteiger ist oft die einseitige Spezialisierung auf einem Produkt. Wenn dieses Produkt nicht mehr gefragt ist oder die Entwicklung so rasant weiter geht, dass eine damals moderne Applikation heute schon veraltet ist und nicht mehr verwendet wird, dann bekommen diese Spezialisten ein Problem auf dem Arbeitsmarkt.

Die IT-Fachkraft muss neben Spezialistenwissen auch sehr gute kommunikative Kompetenzen mitbringen. Die Kommunikation zwischen den Anwendern (Kunden) und den Fachleuten ist enorm wichtig, aber auch enorm schwierig, da die beiden Seiten oft nicht dieselbe Sprache (im übertragenen Sinn) sprechen. Eine Weiterbildung zu einem Fachausweis und einem Diplom zielt auf eine breit gefächerte, inhaltlich entsprechend den Bedürfnissen der Wirtschaft entwickelte Qualifikation. Das bedeutet für die Fachleute, dass sie eine Weiterbildung absolvieren, die längerfristig Mehrwert bringt und nicht auf gewisse Produkte und Zertifikate zielt, die in der rasanten Entwicklung der IT-Welt schnell veraltet sind.

Wie schätzen Sie den Arbeitsmarkt 2020 in der Schweiz für langjährige IT-Mitarbeiter ohne formalen Abschluss ein, wenn uns – wie von Ihnen prognostiziert – 25‘000 Fachkräfte in der IT fehlen?

HH: Wer sich ständig weiterbildet im Bereich der Industriezertifikate und vorausschauend «am Ball» bleibt, hat durchaus Chancen, seine Aktivitäten im IT-Bereich weiter auszuüben, wie gesagt, immer mit dem Risiko der Nachfrage des Produkts.

Inwieweit werden die fehlenden Fachkräfte mit Personen aus dem Ausland ausgeglichen werden können? Oder anders gefragt: Gelten die Quereinsteiger als Fachkräfte oder werden diese aus dem Ausland importiert?

HH: Mittlerweile hat auch das naheliegende Ausland dieselben Fachkräfteprobleme, es wird also schwierig sein, Fachleute aus dem Ausland zu rekrutieren. ICT Berufsbildung überlegt sich, das schweizerische Aus- und Weiterbildungsprogramm im Ausland zu positionieren, sodass die Swiss ICT Academy das Angebot zum Beispiel in Spanien etabliert und somit die Fachkräfte für die Schweiz vor Ort aus- und weiterbildet.

Falls Sie also davon ausgehen, dass IT-Mitarbeiter ohne formalen Abschluss Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt bekommen: Wie kommen die gut 100’000 ICT-Beschäftigten ohne ICT-Qualifikation zu einem formalen Abschluss?

HH: ICT-Berufsbildung bietet für Berufsleute mit Erfahrung im IT-Bereich den eidg. Fachausweis und das eidg. Diplom an. Das heisst, jemand kann nach einer KV-Lehre mit 4 Jahren Berufspraxis in einem Bereich der ICT zur Fachausweisprüfung zugelassen werden.

Wenn Berufsleute ohne IT-Erfahrung «umsatteln» möchten, haben wir neu die Lehrgänge zum Swiss  ICT Assistant entwickelt. Hier geht es darum, in einem 6-monatigen, berufsbegleitenden Kurs in die Welt der ICT einsteigen zu können. Damit bekommt der Absolvent ein Verbandszertifikat und hat damit die Möglichkeit, Berufspraxis zu erlangen.

Die Zulassungsbedingungen zu den formalen Prüfungen sind einfach über die Berufspraxis zu erfüllen, wenn jemand ein EFZ Informatik besitzt, braucht es zwei Jahre Berufspraxis, damit die Person eine Prüfung zum eidg. Fachausweis absolvieren kann. Für jemanden mit einem EFZ eines anderen Berufs braucht es vier Jahre Berufspraxis. Wer keinen formalen Lehrabschluss hat, braucht zum Beispiel sechs Jahre Berufspraxis. Die Ausbildung zu diesen eidg. Prüfungen wird in der Regel von privaten Ausbildungsinstituten angeboten und kann sehr gut berufsbegleitend absolviert werden. Das Wissen zur Prüfung kann sich der Autodidakt auch ohne Schulbesuch aneignen. Der Modulbaukasten mit den Handlungszielen ist öffentlich und für jeden Interessierten zugänglich.

Kennen die Beteiligten die Weiterbildungsmöglichkeiten? Was tut ICT-Berufsbildung zur Aufklärung? Was erwarten Sie von Anbietern in der IT-Aus- und -Weiterbildung wie Digicomp?

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HH: Wir stellen tatsächlich eine grosse Informationslücke fest. Es ist für Aussenstehende auch wirklich schwierig zu verstehen, welche vielfältigen Möglichkeiten das schweizerische Bildungssystem im Allgemeinen und in der ICT im Speziellen bietet.

Da ist auf der einen Seite die Tertiär A (akademischen), auf der anderen Seite die Tertiär B (beruflichen) Weiterbildungsmöglichkeiten und zudem gibt es in der IT noch die unzähligen Industriezertifikate wie Microsoft, Cisco, IBM, SAP etc.

Der Grundstein zur Weiterbildung wird eigentlich schon in der Ausbildung gelegt. ICT-Berufsbildung versucht, die Leute möglichst früh für die ICT zu begeistern. Dieser Grundstein sollte schon in der Volksschule gesetzt werden.

ICT-Berufsbildung ist stets mit redaktionellen Beiträgen und Inseraten in der Fachliteratur und den Bildungsbeilagen der grossen Tageszeitungen präsent. Wir sind auch im Rahmen unserer Möglichkeiten an Informationsveranstaltungen mit Referaten präsent.

Wir erwarten von den Anbietern in der IT-Aus- und -Weiterbildung, dass sie ihr Angebot auch auf die formalen Abschlüsse erweitern, da können wir auch mit Werbematerial Unterstützung bieten.

Welche Rolle spielt der Arbeitgeber in der Motivation der Mitarbeitenden zur Weiterbildung?

HH: Er ist die treibende Kraft dazu. Der Arbeitgeber kann die Mitarbeitenden motivieren und zum Beispiel mit Zeitgutschriften während der Arbeitszeit unterstützen. Oft ist der Arbeitgeber auch bereit, einen Teil der Ausbildungskosten zu übernehmen. In erster Linie ist eine Weiterbildung zwar eine persönliche Angelegenheit, aber im Endeffekt sind gut ausgebildete Mitarbeitende wertvoll für einen Betrieb.

Widmen wir uns dem Thema Fachkräftemangel. Es ist nun klar, dass die aus der Historie geborene Struktur des Arbeitsmarkts und der prognostizierte Mangel zusammenhängen. Wie sieht dies nun aber mit dem Nachwuchs aus? Was tut sich in der Berufslehre und an Universitäten?

HH: Mehr als 900 zusätzliche ICT-Lehrstellen wurden in den letzten zwei Jahren geschaffen. Rund 8200 Ausbildungsplätze für Informatik und Mediamatik gibt es derzeit in der Schweiz. Über 2500 Jugendliche haben sich im letzten Jahr für eine ICT-Grundausbildung entschieden. Die Entwicklung ist doppelt erfreulich: Zum einen scheinen die Anstrengungen von ICT-Berufsbildung Schweiz zu greifen, zum andern ist die Zunahme von 13% an ICT-Lehrverhältnissen im Wettbewerb um die sinkende Zahl an Schulabgänger/-innen ein starkes Ergebnis. Dies umso mehr, als dass parallel dazu die Gymnasialquote stetig steigt.

ICT-Berufsbildung ist ja eine Organisation, die von allen IT-Verbänden gemeinsam getragen wird. Was tun die Verbände gegen den Fachkräftemangel? Gibt es hier eine gemeinsame Stossrichtung? Wenn ja, wie sieht die aus? Oder wenn nein, was würden Sie sich wünschen?

HH: Ein grosses Anliegen ist die Werbung für den eigentlich sehr jungen Beruf des Informatikers. Die Branche hat wenig Tradition und ist zwar von der Wertschöpfung her mit 28 Mrd. auf Augenhöhe mit dem Baugewerbe (29.5 Mrd.) an dritter Stelle, neben den Banken mit 35.8 Mrd.

Die Anerkennung der Leistungen der Informatik ist oft auch ein Problem. Im positiven Sinne wünschen wir uns mehr Wertschätzung der Arbeit der Informatik.

Was erwarten Sie von der Politik und von der Wirtschaft? Wer könnte am meisten Gegensteuer geben?

HH: Die Wirtschaft sollte die inländisch tätigen Fachkräfte berücksichtigen. Die Wertschätzung der hervorragenden Berufsleute in der Schweiz sollte erkannt und berücksichtigt werden, bevor eine Firma an ein Outsourcing ins Ausland denkt. Die Quereinsteiger ohne formale Abschlüsse sollen zur Weiterbildung motiviert werden.

Als letzte Frage eine Carte Blanche: Wenn Sie alleine entscheiden könnten, was würden Sie unternehmen, um 1) Fachkräftemangel und die 2)Herausforderungen mit den IT-Quereinsteigern zu lösen?

HH: 1) Ich würde in der Volksschule ansetzen und dort für die allgegenwärtige Informatik sensibilisieren. Den Kindern soll bewusst werden, welchen Stellenwert die Informatik in unserem heutigen Alltag hat, und dass hinter allen Errungenschaften der Informations- und Kommunikationstechnologie Menschen stehen, die diese Entwicklung bedeutend geprägt haben. Ihnen soll bewusst werden, dass sie selber mit Leichtigkeit an dieser Entwicklung teilhaben und aktiv mitwirken können. Die junge Generation wächst heute viel breiter mit der IT auf als die Generationen davor.

Zu diesem Punkt gehört natürlich in erster Linie auch die Ausbildung der Lehrkräfte, die diese Affinität zur ICT haben, gut ausgebildet sind und ohne Ängste an dieses Thema herangehen. Eine Lehrkraft kann in der Grundschule viel von der Faszination der ICT vermitteln und mit Anwendungen den Zugang zur Technik ermöglichen. Der Schritt zum Selber-Entwickeln von Programmen, Apps, Regelungen und Steuerungen ist dann ein Kinderspiel.

2) Für die Quereinsteiger sehen wir eine Art Validierung der Vorleistungen vor. Die Summe aller Kompetenzen wird in einem europäischen Competence Frame erfasst, validiert und durch ein Verbands-internes Raster eingestuft und so zu einem formalen Abschluss seines Niveaus geführt.

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Vielen Dank, Herr Hofpeter, für dieses interessante Interview.

 

Hofpeter

Hansjörg Hofpeter

Stv. Geschäftsführer
Leiter Höhere Berufsbildung
ICT-Berufsbildung Schweiz

Hansjörg Hofpeter ist stv. Geschäftsführer des im Jahr 2010 neu gebildeten nationalen Verbands ICT-Berufsbildung Schweiz. ICT-Berufsbildung Schweiz wird getragen vom Dachverband ICTswitzerland sowie den kantonalen und regionalen ICT-Lehrbetriebsorganisationen.

Zuvor war Hofpeter während über 30 Jahren als Lehrer Sekundarstufe 2 an einer Privatschule tätig. Er hat dort diverse Ausbildungsgänge mitgestaltet und aktiv durchgeführt. Unter anderen hat er ein Konzept für das 10. Schuljahr mit Schwerpunkt Informatik und Allgemeinbildung und die Lehrplanarbeit für den dreijährigen FMS-Ausbildungsgang Information und Kommunikation entwickelt.

Hofpeter ist seit 17 Jahren aktives Gemeinderatsmitglied in seiner Wohngemeinde im französischsprechenden Teil des Kantons Freiburg.


Über den Autor

Oliver Müller

Seit Juni 2012 ist Oliver Müller für das Business Development bei Digicomp verantwortlich. Er führte in dieser Funktion die Geschäfte der Somexcloud seit dem Zusammenschluss mit Digicomp und verantwortete den Aufbau neuer Lehrgänge und Kurse in Digitalem Marketing und Social Selling. Als Scrum Master hat er für Digicomp das Framework auf Unternehmensweiterbildungen adaptiert und leitet nun agile Lernsprints in Firmen mit dem Ziel "Mastering Digital Change". Mit seiner eigenen Kommunikationsfirma «King Content GmbH» berät Unternehmen in der strategischen Verwendung von digitalem Content zur Leadgenerierung oder Marketing Automation. Privat verbringt er seine Zeit in den Bündner Bergen bei Skifahren, Tennisspielen und Wein trinken vor dem Kaminfeuer.