Lernen in Organisationen 4.0

Die Zukunft des Lernens in Organisationen hat bereits begonnen. Menschen haben heute Zugriff auf eine grosse Menge von Wissen und Erfahrungen. Diese neue Freiheit im Wissensdurst der Mitarbeitenden sollten sich die Organisationen zu Nutze machen. Lesen Sie dazu den Beitrag von Angela Taverna.

Autor Angela Taverna
Datum 03.06.2019
Lesezeit 7 Minuten

«Ich habe heute etwas gegoogelt… das war sehr interessant und das will ich ausprobieren!» Solche Aussagen begegnen den Lehrpersonen immer öfters im Klassenzimmer. Wissen ist heute überall. Wie können sich Organisationen dies für ihre Mitarbeitenden zu Nutze machen? 

Organisationen 4.0 fordern von ihren Mitarbeitenden heute nicht mehr nur die klassischen Fach- und Methodenkompetenzen. Daneben oder ergänzend muss ein/-e Stelleninhaber/-in auch selbst- und sozialkompetent sein.

kompetenzen

Seit einigen Jahren wird die Selbstkompetenz immer grösser geschrieben. Vor allem in  moderneren Organisationsformen wie agile, virtuelle oder geografisch unabhängige Netzwerkorganisationen oder Expertenorganisationen setzen Organisationsleitungen auf die Selbstorganisation der Mitarbeitenden.

Um auf die Selbstorganisation der Mitarbeitenden setzen zu können, bieten Organisationen Entwicklungsmöglichkeiten, die dem «stay connected»-Gedanken entsprechen. Ganze Kataloge an Weiterbildungsmöglichkeiten inhouse werden in virtuellen Klassenzimmern aufbereitet. Lernveranstaltungen, Seminare oder sogar mehrjährige Trainee- und Nachwuchsförderprogramme angeboten. Didaktische Designs hierzu beziehen neue Medien und web- oder cloudbasierte Plattformen für das Lernen mit ein.

Lernen für die Praxis – ein Beispiel

Kevin L. bekleidet seit einigen Wochen eine Führungsposition. Seine unterstellten Mitarbeitenden kennt er bereits persönlich und weiss ungefähr, wie sie ticken. Dank seiner Weiterbildung auf Stufe HF hat er bereits einiges an Leadership Wissen, das er mitbringt. Anwenden konnte er es jedoch bisher noch nicht aktiv. Sein Arbeitgeber hat ihm zugesichert, dass er in den kommenden drei Monaten aktiv in seiner neuen Position begleitet wird. Hierfür gibt es inhouse ein eigenes Leadership Education Training LET.

leadership education training

Kevin L. setzt im Vorfeld mit seiner Vorgesetzten Lernziele für die nächsten zwei Monate fest. Im LET hat Kevin L. bereits drei Themen gesehen, die er unbedingt auf seine Agenda setzen will: Mitarbeitergespräche führen, Teamorganisation und Umgang mit Stress. Diese Auswahl passt gut für die nächsten zwei Monate. Seine Vorgesetzte gibt ihr Einverständnis und vereinbart mit ihm einen Folgetermin für in sechs Wochen, um den Stand der Dinge zu analysieren.

Kevin L. meldet sich für das erste Modul seiner Wahl im LET an: Umgang mit Stress. Das scheint ihm am dringlichsten in seiner neuen Position. Innert 48 Stunden hat der zuständige Coach mit ihm via Mail Kontakt aufgenommen und gibt ihm sowohl einen Leseauftrag als auch einen Selbstbeobachtungsauftrag, den er innert 10 Tagen schriftlich rückmelden soll. Nach Kevins Zusage wird der Termin direkt in seinem digitalen Kalender gespeichert, das ausgewählte Modul wird im LET mit der verbleibenden Dauer und der bereits erreichten Prozentzahl angezeigt.

Nach 10 Tagen sendet Kevin L. dem Coach seinen Bericht. Der Coach vereinbart mit Kevin L. einen synchronen Austausch via Skype, um mit ihm den Bericht zu reflektieren. In diesem einstündigen Coaching werden Situationen aus dem Alltag reflektiert und gemeinsam werden Handlungsmuster aufgedeckt sowie neues Verhalten abgemacht. Zudem bekommt Kevin L. einen weiteren Leseauftrag zum Thema Umgang mit Stress und einen weiteren Auftrag: Diesmal muss Kevin Bilder aus seinem Arbeitsalltag machen, die ihn in Stresssituationen versetzen. Wieder werden Termine vereinbart. Das Modul endet dann, wenn Kevin L. für sich entscheidet, genügend erfahren zu haben und genügend Werkzeuge für seinen Alltag bereit zu haben.

Danach oder auch parallel beginnt Kevin L. mit einem weiteren Modul…

Lernen macht Schule

Einige Vorteile des LET sind augenscheinlich:

  • Der Mitarbeitende kann in seinem Tempo lernen und reflektieren und setzt in den Bereichen an, die ihm in seiner momentanen Situation wichtig erscheinen.
  • Das Unternehmen zahlt nach dem Aufbau des Programmes die Einsatzstunden der Coachs, die allesamt als Freelancer tätig sind.
  • Die Module können beliebig ausgebaut werden. Wichtig ist dabei, dass die Personalentwicklung die vier Bereiche (Sozialkompetenz, Selbstkompetenz, Fachkompetenz und Methodenkompetenz) konstant beobachtet und regelmässig Bedarfserhebungen macht.
  • Melden sich während einer bestimmten Dauer mehrere Mitarbeitende für ein Thema / Modul an, können daraus Gruppenveranstaltungen gemacht werden.

Diese Aufzählung ist nicht abschliessend.

pyramide

Pedler, Boydell und Burgoyne definierten in den späten 1980er-Jahren die ersten Standards für lernende Organisationen: «Eine Organisation, die das Lernen sämtlicher Organisationsmitglieder ermöglicht und die sich kontinuierlich selbst transformiert.» Und Senge bringt mit seiner Definition Ende der 1990er-Jahren das Ganze auf den Punkt:

«Die lernende Organisation ist ein Ort, an dem Menschen kontinuierlich entdecken, dass sie ihre Realität selbst erschaffen.»

Ein Ort, an dem Lernen möglich wird

Organisationen 4.0 setzen auf eine selbstgesteuerte Lernkultur. Die Mitarbeitenden in ihrer Reflexion wissen, welche Lücken oder welchen Bedarf sie haben und können diesen benennen. Was nicht bedeutet, dass alles selbst erlernt werden muss, sondern vielmehr ein sinnvoller Mix zwischen Lerngruppen, also Präsenzveranstaltungen, selbstgesteuerten Reflecting Teams und Selbststudium erfolgreich ist. Das oben genannte Beispiel von Kevin L. bezieht sich auf die Selbstlernkompetenzen.

Die Rolle des klassischen «Lehrers» driftet dabei mehr und mehr zu der eines Lernbegleiters, eines Coachs und eines Enablers. In dieser Rolle hat der Dialogpartner ein hohes Fachwissen und kennt auch die Tücken der Praxis, lässt dem Lernenden jedoch die Freiheit, selbst zu entscheiden, was er in welchem Tempo und mit welchem gewünschten Ergebnis erreichen will. So verändert sich auch die Rolle und die Haltung des Lernenden hin zu einem selbstbestimmten, entwicklungsorientierten Supervisanden, der nicht länger «geprüft» werden muss, sondern sich selber reflektiert und erkennt, wo er noch ansetzen kann.

Im «let’s connect»-Zeitalter können dabei viele web- und cloudbasierte Plattformen für das Lernen genutzt werden. Das Design eines virtuellen Klassenzimmers sollte didaktischen Fachleuten überlassen werden. Wie bei so vielen Rezepten ist es der Mix, der den Erfolg ausmacht. Beratung und gemeinsame Entwicklung einer Educational Trainingsplattform ist zeit- und kostenaufwändig und sollte nicht ab der Stange gekauft werden. Selten passt ein Allzwecksformat auf die Bedürfnisse der eigenen Organisation.

Die Zukunft des Lernens ist schon heute. Menschen haben Zugriff auf eine grosse Menge von Wissen und Erfahrungen. Diese neue Freiheit im Wissensdurst der Mitarbeitenden sollten sich die Organisationen zu Nutze machen. Neugierde und Lernen liegen in der ureigenen Natur des Menschen. Ein lernender Mensch ist eine Ressource und ein Erfolgsfaktor im Unternehmen. Lassen Sie sie lernen und geben Sie ihm ein Umfeld, in dem das Lernen sinnstiftend und attraktiv ist.


Über den Autor

Angela Taverna

Angela Taverna ist selbstständige Supervisorin und Moderatorin. In ihrer Tätigkeit berät und begleitet sie Unternehmen in Change-Prozessen und in der Nachwuchsförderung. Sie leitet Seminare in persönlichkeitsbildenden Themen wie Kommunikation, Selbstmanagement und Selbstkenntnis sowie Führung und Konfliktwahrnehmung. Als Coach begegnet sie Führungspersonen und Ausbildenden in der Reflexion ihrer Tätigkeit und ihrer Werthaltungen.