Wie sich die Wahrnehmung und der Stellenwert von Gesundheit und Arbeitswelt in den letzten 40 Jahren verändert hat

«Früher war alles besser», ist eine Aussage, die wohl schon ewig existiert und immer wieder gerne verwendet wird. Aber ist sie auch wahr?

Autor Alexandra Meures
Datum 17.01.2018
Lesezeit 13 Minuten

«Früher war alles besser», ist eine Aussage, die wohl schon ewig existiert und immer wieder gerne verwendet als auch belächelt oder sogar verhöhnt wird.

War damals alles besser? Ging es den Arbeitnehmern vor 40 Jahren körperlich und psychisch wirklich besser als heute? Die gesellschaftlichen und insbesondere die arbeitsorientierten Werte haben sich in den letzten 40 Jahren in unserer Gesellschaft stark verändert.

Im Industriezeitalter zählten insbesondere Fleiss, Disziplin, Ordnung, Pünktlichkeit und Gehorsam (keine Fragen stellen, nur ausführen!) zu den wichtigsten Werten. In den letzten Jahren entwickelte sich der Wunsch nach sinnvoller Beschäftigung, Partizipation und Selbstentfaltung signifikant. Für 75% der Nachwuchskräfte ist die richtige Balance zwischen Familie und Beruf besonders wichtig. Dabei sollte selbstverständlich auch der Lohn stimmen, denn dieser stellt ja zudem die Wertschätzung der Leistung (und so manche Einbussen an Freizeit) dar. Dies führt aus vielerlei Gründen zu Freizeit- und Familienstress. Jede Medaille hat zwei Seiten. Frauen sind heute (mindestens) genauso ausgebildet wie Männer, sie studieren und bilden sich weiter, setzen viele Stunden für Beruf und Karriere ein und möchten dabei die Familie ebenfalls zufriedenstellen. Dies erfordert u.a. spezifische Strategien auf Seiten der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie auch von Dienstleistern rund um das Thema.

Doch nutzen wir die Neuerungen sowie Erkenntnisse zu Gesundheitsthemen und dem technologischen Fortschritt zu unserem Vorteil?

Welcher Stellenwert wurde der Gesundheit in Bezug auf die Arbeitswelt damals zugemessen?

Hier ein paar Rechercheergebnisse und Erfahrungswerte von mir sowie von 50–60-jährigen Frauen und Männer, die ich zu diesem Thema befragt habe.

«Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.» Definition Gesundheit (WHO)

Die Arbeitswochenstunden haben sich nur gering verändert

Ich selber gehöre der Generation X an und erinnere mich, dass meine Eltern beide einen ca. 8–10-stündigen Arbeitstag hatten (in Deutschland). Auch hier war dies wohl ähnlich, denn die Initiative für die 40-Stundenwoche in der Schweiz scheiterte 1976 – die damalige reguläre Arbeitszeit war auf 44 Wochenstunden angesetzt und wurde oftmals überschritten. Die Verkürzung der Arbeitszeit gestaltete sich schleppend und war je nach Branche unterschiedlich. 2010 setzten sich die 40–42 Wochenstunden dann branchenübergreifend durch. 100 Jahre zuvor übrigens, galten noch über 50–60 Wochenstunden als reguläre Arbeitszeit und auch Kinderarbeit gab es damals in der Schweiz.

Doch zurück zum Jahr 1978 – welchen Stellenwert wurde einer gesunden Arbeitswelt damals zugeschrieben?

Gesellschaft, Politik, Arbeitgeberbedürfnisse und Arbeitnehmerschutz

Mit dem zunehmenden – politischen und arbeitsrechtlichen – Bewusstsein für die Gesundheit der Arbeitnehmer wurde den Arbeitgebern ein Managementsystem an die Hand gegeben, mit dem die Wahrnehmung für die körperliche und psychische Gesundheit der Arbeitnehmer gesteigert wird und damit besser Sorge getragen werden kann.

Die Entwicklung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM)

Die Gesundheit der Arbeitnehmer – und damit die Arbeitskraft – befand sich selbstverständlich schon immer im Blickwinkel der Arbeitgeber sowie der gesamten Weltgesundheitsorganisation (WHO).

  • Die WHO erstellte 1986 mit der Ottawa-Charta die wesentliche Grundlage für die betriebliche Gesundheitsförderung.
  • Das Europäische Netzwerk für die betriebliche Gesundheitsförderung stellte dann in 1997 sowie 2007 durch die Luxemburger Deklaration die Bedeutung einer systematischen qualifizierten Gesundheitsförderung für den Erhalt und die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit dar. Es ging um eine Neuorientierung des traditionellen Arbeitsschutzes hin zur Prävention und Gesundheitsförderung.
  • Seit 2010 existiert der sogenannte Social Capital and Occupational Health Standard (SCOHS). Es ist ein Anforderungskatalog, mit dessen Hilfe ein standardisiertes BGM in Unternehmen aufgebaut werden kann. Hinter der Entwicklung dieses Standards stehen der deutsche Soziologe, Philosoph und Politikwissenschaftler Bernhard Badura und ein Team aus Wissenschaftlern, Beratern, Vertretern der Industrie und Zertifizierungsunternehmen.

Wie ist die Wahrnehmung der Arbeitnehmer zu der Fürsorge seines Arbeitgebers?

Hat sich die Gesundheit aller Beschäftigten in den letzten 40 Jahren zu einem Mikromanagementprojekt entwickelt? Sind wir nicht mehr in der Lage, selber für unsere Gesundheit Sorge zu tragen? Oder bietet ein betriebliches Gesundheitsmanagement – über den Arbeitsschutz hinaus – besonders förderliche Aspekte für unser Wohlergehen? Als Kursleiterin in diesem Bereich habe ich Einblick in die Handlungsbereiche und befürworte selbstverständlich die BGM-Bemühungen und -Massnahmen, die Unternehmen ihren Beschäftigten zuteil kommen lassen möchten. Damit wird ja niemand entmündigt, sondern lediglich in seinem Wohlergehen unterstützt. Nur wer sich aktiv beteiligt, kann auch einen Nutzen daraus ziehen. Es wird Wissen vermittelt und so manche Handlungsempfehlungen können im Betrieb auch gleich in die Tat umgesetzt werden.

Doch merken Sie dadurch auch aktiv, dass der Stellenwert Ihrer Gesundheit an Bedeutung zugenommen hat?

Was sich in den letzten Jahren verändert hat

Das hat sich verbessert

Kein Zigarettenrauch mehr im Gebäude, ergonomische Arbeitsplätze, Fitnessangebote, Themengruppen, gesunde Ernährungsmöglichkeiten, kostenloses Wasser und/oder Obst, ansprechende Gemeinschaftsräume zum Austausch und zur Regeneration, Entspannungs- und Mindfullness Angebote, Weiterbildungsangebote zu diversen Gesundheitsthemen, verständnisvolle Vorgesetzte, die eine gesunde Führungskommunikation vertreten, verbesserte Arbeitszeitmodelle zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Homeoffice-Möglichkeit… und sicherlich noch einiges mehr hat sich in den letzten Jahren verbessert.

Das hat sich verschlechtert

Die ständige Erreichbarkeit ist der grösste Stressfaktor, der in sämtlichen Befragungen einen hohen negativen Stellenwert in punkto Gesundheit einnimmt. Des Weiteren: die Unterbrechungen der Tätigkeit und Arbeiten mit hohem Tempo sowie Termindruck und der ständige Wandel; Neuorientierungen und Umstrukturierungen. Beim Stressempfinden gab es in den letzten Jahren eine Verschiebung in der Steigerung von «manchmal» zu «häufig». Lesen Sie dazu unsere Auswertungen zur Umfrage «Stress am digitalisierten Arbeitsplatz».

Stress ist ein Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen an eine Person und ihren Bewältigungsmöglichkeiten. Wer sich gestresst fühlt, fühlt sich oft auch emotional erschöpft. Wird Stress chronisch, entwickelt er sich zu einem Vorläufer von Burnout.
Die Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen haben in den letzten 40 Jahren um über 70% zugenommen.

Während man vor 40 Jahren eher «lokal» tätig war – räumlich wie auch gedanklich – steht man heute oftmals unter dem «globalen Einfluss». Entscheidungen können kaum noch von einem Arbeitnehmer allein getroffen werden und auch der Vorgesetzte muss oftmals erst noch das Head Office – auf einem anderen Kontinent – hinzuziehen. Diese Art der Vernetzung und Abhängigkeit wirkt sich negativ auf die Handlungsfähigkeit und damit auf die Sinnhaftigkeit der Arbeit aus (siehe mein Blog zum Salutogenese Model).

Stresst Sie die Geschwindigkeit des Wandels?

Staunen Sie voller Freude über die vielen Möglichkeiten, die Ihnen geboten werden, um Ihre Arbeit «on the go» zu erledigen – oder wächst Ihnen die ständige Interaktivität über den Kopf? Ist es das Tempo, die ständige Erreichbarkeit, die verschwimmenden Grenzen von Arbeit und Privatleben, die Vielfalt an Freizeitangeboten, an denen Sie mit Familie und Freunden teilnehmen möchten etc.?

Die heutigen Möglichkeiten sind wirklich grenzenlos – global und jederzeit, rund um die Uhr, «just a fingertip away».

Was wohl Momo dazu sagen würde … Erinnern Sie sich noch an die Geschichte von Michael Ende, die 1973 erschien? Sie erzählt von den «grauen Herren», die die Zeit stehlen; von Beppo dem Strassenkehrer, der vor Eintreffen der «Zeit-Diebe» mit jedem Besenstrich Zufriedenheit in seiner Arbeit fand sowie von der Schildkröte Kassiopaia, die Momo hilft, den Meister Hora zu finden, um mit seiner Unterstützung das Zeit-Kontinuum wiederherzustellen. Kommt Ihnen das bekannt vor?

Stresst Sie ein möglicher Identitätsverlust?

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Leben? Leben Sie das Leben, welches Ihnen Freude bereitet und Ihnen gut tut? Führen Sie die Arbeit aus, bei der Sie Ihr schöpferisches Potenzial ausleben können – oder tragen Sie eine gut sitzende Maske, um es möglichst allen recht zu machen? Jeder, so denkt man, weiss (fast) alles über jeden. Soziale Netzwerke liefern dabei nur einen Teil der persönlichen Informationen. Doch wie es wirklich in unserem Inneren aussieht, dass zeigen wir nur den wenigsten Mitmenschen.
Verlieren wir unsere Werte, unsere Identität durch Anpassung an die ständigen Normen in der Arbeits- und Privatwelt? Befinden wir uns in einem seelischen Niemandsland, in dem wir unbewusst die Identität unseres Umfeldes annehmen? Wollen wir immer allen und allem gerecht werden? Wie viele «Hüte» tragen Sie tagtäglich?

Unser eigenes Anspruchsdenken hat das unseres Umfelds meist schon überflügelt – auch hier ist in den letzten 40 Jahren ein Geschwindigkeitszuwachs zu erkennen.

Mein Fazit

Unsere Wahrnehmung ist immer subjektiv und damit auch die Einschätzung zu unserem Wohlbefinden bzw. Stressempfinden. Allgemein betrachtet, hat sich jedoch der Stellenwert unserer Gesundheit in den letzten 40 Jahren negativ entwickelt. Auch wenn von Seiten der Arbeitgeber viel getan wird – die gesundheitsfördernden Massnahmen allein können den steigernden Anforderungen nicht gerecht werden.

Wir müssen uns auch an die eigene Nase fassen, denn wir haben jeden Tag die Wahl unserer Gedanken und jeden Tag die Wahl uns für oder gegen «etwas» zu entscheiden. Sobald jeder sich seiner Wahrnehmung und seiner Bewertung dieser mehr bewusst wird und wieder mehr Eigenverantwortung für sein körperliches und psychisches Wohlergehen übernimmt, wird auch unserere Gesundheit wieder ins Gleichgewicht kommen.

Welchen Stellenwert messen Sie Ihrer Gesundheit zu?

Egal wie sehr sich der Arbeitgeber für die Gesundheit seiner Beschäftigten einsetzt und wie viele Verbesserungen es da in den letzten 40 Jahren gegeben hat, wenn die «Betroffenen nicht zu Beteiligten werden», wird der Stellenwert der Gesundheit sich nicht verbessern. Wie nehmen Sie Ihre Gesundheit wahr?

Was tun Sie für Ihre psychische Gesundheit und was für Ihre körperliche?

Tragen Sie vielleicht ein Armband oder eine Uhr, die alle Ihre Bewegungen misst, Ihren Kalorienbedarf berechnet und Ihren Schlaf überwacht? Sie können die volle «externe» Kontrolle über Ihre körperliche Gesundheit haben, wenn Sie möchten.

Und 1978? Mann trug eine Uhr. Frau auch. Jedoch nur, um die Tageszeit abzulesen (oder auch als Schmuckobjekt). Falls Sie also vor 40 Jahren eine reguläre Uhr trugen und dies auch heute noch tun, dann können Ihnen Ihre Enkel sicherlich erklären, was heute so am Handgelenk alles möglich ist. Ja, das waren noch Zeiten, in denen die Grosseltern ihren Enkeln zeigten und erklärten wie etwas funktioniert. Heute ist es meist andersherum.

Heute verschiebt sich die alte Rollenverteilung mehr und mehr

Angekommen im Zeitalter der Digitalisierung, zählen die Pioniere von 1978 nun eher zu den «Staunenden». Jahr für Jahr potenzieren sich die Möglichkeiten der Informationstechnologie. Die Leistungschips werden von Klein- zu Kleinstteilen, von Macro zu Micro zu Nano – es geht noch kleiner und dies bei gleichzeitig steigender Leistung. Reguläre Arbeiten am PC, die wir vor etwa 20 Jahren auf das Laptop verlagerten, um so mobiler zu sein, können wir heute, fast selbstverständlich, auf dem Handy oder auf unserer Uhr erledigen.

Wo auch immer die Reise uns noch hinführen wird, die Geschwindigkeit im steten Wandel hat zugenommen und eine Veränderung dieser vorranschreitenden Tatsache ist vorerst nicht in Sicht.

Tun Sie sich etwas Gutes – entschleunigen Sie täglich mindestens ein paar Minuten! Hier gibts ein paar konkrete Lösungsansätze und Übungen.

Und Sie?

Schreiben Sie mir über das Kommentarfeld unten, was Sie für Erfahrungen gemacht haben. Was sind Ihre Tipps & Tricks, mit denen Sie den fortschrittlichen Wandel zum Vorteil für Ihre Gesundheit nutzen? Ich freue mich auf Ihre Inputs.


Über den Autor

Alexandra Meures

Während ihrer 20-jährigen Führungs- und Managementlaufbahn war Alexandra Meures für mehre internationale Firmen im Auf- und Ausbau neuer Geschäftsbereiche zuständig. Ihr lösungsorientiertes, unternehmerisch-soziales Denken und Handeln setzte sie besonders in der Verbindung der Verhältnis- und Verhaltensoptimierung für Mitarbeitende und Unternehmen ein. Dazu zählten u.a. Struktur- und Prozessentwicklung sowie der Aufbau neuer Abteilungen in Gründungs- und Veränderungsphasen. Nicht zuletzt durch ihre internationale Erfahrung mit wertschätzender Arbeitskultur und achtsamer Kommunikation ist sie heute als Consultant und Trainerin im betrieblichen Gesundheitsmanagement tätig. Dies inklusive Analyse, Budgetierung, Entwicklung und Begleitung in der Umsetzung. Qualifizierungen: Executive International MBA, Coach, Trainerin, Gesundheitsberaterin, betriebliche Gesundheitsmanagerin, auch auf Basis «Friendly Workspace» (Label Gesundheitsförderung Schweiz).