Kreativität in der Praxis – The Scorpion Kick von «El Loco»

Angewandte Kreativität; der Scorpion Kick des kolumbianischen Nationaltorhüters «El Loco» beinhaltet alles, was Kreativität ausmacht; mutig, intuitiv und trainierbar!

Autor Chris Brügger und Jiri Scherer
Datum 20.03.2017
Lesezeit 6 Minuten

Um Kreativität zu verstehen, kann man Bücher lesen, mit Experten diskutieren oder man nimmt sich einen Abend frei und geht zum Fussball.

Es ist Mittwoch, der 6. September. Das Jahr: 1995. Der Ort des Geschehens: das Wembley-Stadion in London. 20’038 Zuschauer haben sich in der Kathedrale des englischen Fussballs versammelt, um das Länderspiel zwischen England und Kolumbien zu sehen.

Kein Mensch würde sich heute noch an das Spiel erinnern, wäre nicht plötzlich der Ball nach einem gekonnten englischen Spielzug bei Jamie Redknapp gelandet. Der Mittelfeldspieler des FC Liverpool befindet sich gut 20 Meter vom kolumbianischen Tor entfernt. Mangels weiterer freier Anspielstation entschliesst er sich zu einem Distanzschuss. Der Ball scheint genau unter die Latte zu passen. Die Zuschauer halten den Atem an. Ein Tor liegt in der Luft.

Im Tor der Kolumbianer steht José René Higuita Zapata. Auch genannt: «El Loco». Seine Markenzeichen sind ein wilder schwarzer Lockenkopf und eine Trainingshose, die aussieht, als sei sie in einem Second-Hand-Shop in den Favelas von Bogotá geklaut worden.

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Higuitas Spitzname «El Loco» kommt nicht von ungefähr. Der exzentrische Torwart liebt das Risiko. Er schiesst als Torhüter mehr Tore als ein durchschnittlich begabter Stürmer. René Higuita sieht Jamie Redknapps Geschoss auf sich zufliegen. Er glaubt einen englischen Spieler im Abseits und fühlt sich durch den ausbleibenden Schiedsrichterpfiff kurz provoziert. Eine Irritation, die nur Sekundenbruchteile andauert, trotzdem aber seinen Gedankenfluss entscheidend durcheinanderwirbelt. Im Prinzip könnte Higuita jetzt zwischen folgenden Abwehroptionen wählen: Den Ball mit beiden Händen fangen. Oder wegfausten. Oder er wählt die verwegene Variante: Er stoppt den Ball mit der Brust und setzt zu einem seiner berüchtigten Sturmläufe an.

Was macht «El Loco»? Nichts von alledem! René Higuita entschliesst sich zu einer Aktion, die als unglaublichste Torwart-Parade aller Zeiten in die Fussballgeschichte eingehen wird. Er wirft sich waagrecht in die Luft und wehrt den Ball kopfüber mit seinen Fusshacken ab. Es ist eine Parade, die eigentlich nicht zu beschreiben ist. Deshalb an dieser Stelle nur drei Worte: The Scorpion Kick!

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«Higuitas Parade ist vieles: einzigartig, spektakulär, tollkühn, riskant und in den Augen seines Trainers wohl auch akut herzgefährdend. Vor allem aber ist sie eines: kreativ!»

Ohne es zu wissen, liefert René Higuita am 6. September 1995 im Londoner Wembley-Stadion ein Lehrstück in Sachen Kreativität ab. Sein artistischer Abwehrreflex beinhaltet alles, was in der modernen Kreativitätsforschung als integrale Bestandteile kreativen Handelns zusammengefasst wird: das Denken in Varianten, das Durchbrechen fester Denkmuster mittels Provokation, der Mut zum Scheitern.

Higuitas Husarenstück wird von einer kreativitätsfördernden «Unternehmenskultur» begünstigt. Von toleranten Mitspielern und einem schmerzresistenten, nervenstarken Trainer. Der Scorpion Kick zeigt auch, dass Kreativität in der Regel das Resultat eines höchst produktiven Prozesses ist. Der kolumbianische Nationaltorwart machte in seiner gesamten Laufbahn Hunderte von Paraden. Eine einzige machte ihn zur Legende.

«Nicht zuletzt beweist der Scorpion Kick, dass Kreativität trainierbar ist.»

Denn auch wenn «El Locos» Zirkusnummer letztlich das Resultat eines einmaligen Zusammentreffens von Intuition, Talent, Zufällen, äusseren Reizen und einer angeborenen Verrücktheit ist – die technischen und athletischen Fähigkeiten, die den Scorpion Kick erst möglich gemacht haben, hat sich der kolumbianische Nationaltorwart in jahrelangem Training Schritt für Schritt angeeignet.

Was auf dem Fussballfeld stimmt, trifft auch auf Ihren Arbeitsplatz zu. Nicht, dass Sie uns falsch verstehen: Sie müssen nicht verrückt sein, um kreativ zu sein. Sie brauchen dafür auch keine extravagante Frisur, und schon gar nicht müssen Sie mittels abgewetzten Beinkleidern den Ruch des Ghettos mit sich herumtragen.

Es reicht, wenn Sie in Grundzügen über kreatives Denken Bescheid wissen. Es reicht, wenn Sie verstehen, wie unser Gehirn funktioniert und wie man seine angeborene Bequemlichkeit überlistet. Es reicht, wenn Sie sich im Klaren darüber sind, dass Kreativität kein Geschenk des Himmels ist, sondern eine Fähigkeit, die man trainieren kann. Es reicht, wenn Sie begreifen, dass Kreativität und Scheitern zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Es reicht, wenn Ihnen bewusst ist, dass Sie mit geeigneten Rahmenbedingungen und einer entsprechend positiven Unternehmenskultur die Kreativität nachhaltig fördern, im gegenteiligen Fall aber auch die bestgemeinten Versuche unweigerlich ins kreative Offside laufen lassen können. Das alles wird Ihnen noch nicht einen Übernamen vom Schlage eines «El Loco» einbringen – mit grosser Wahrscheinlichkeit aber den Ruf, ein Kollege zu sein, mit dem man gern und erfolgreich kreativ zusammenarbeitet.


Über den Autor

Chris Brügger und Jiri Scherer

Chris Brügger und Jiri Scherer sind Gründer von Denkmotor. Sie sind Experten für die Vermittlung von kreativen Denktechniken. Sie leiten in Zusammenarbeit mit Digicomp die Kreativitässeminare.